Autismus Erfahrung: Gedanken, Gefühle, Handlungen und Absichten einschätzen

Vorweg möchte ich eine einfache Erklärung von Neurotypisch und Neurodivers anbringen.

Neurodiversität ist im Grunde alles, was von einer neurokognitiven Norm abweicht. Menschen mit (rezidivierender) Depression, mit Zwangsstörungen, Borderline, Bipolare Menschen, Hochbegabung, Synästhesie, Schizophrenie, Lernschwächen, AD(H)S und Autismus, und vieles mehr. Das Ganze ist ein riesiges Spektrum (natürlich nicht alles auf dem selben Spektrum)

Und neurotypisch ist eben das, was nicht von der Norm abweicht. Wenn man so will, ein netteres Wort für „normal“ (ein durchschnittlich funktionierendes Gehirn). Aber „normal“ ist ja das Gegenteil von „unnormal“ und das ist Ableismus. Gerade bei Einschränkungen und Behinderungen, die man nicht sehen kann, werden einem diese klein-geredet oder gar abgesprochen.

Das klassische Beispiel ist der Mensch im Rollstuhl: niemand sagt „na steh doch einfach auf“, anders herum wird gesagt, wenn der Mensch aus dem Rollstuhl aufsteht „wie, du kannst aufstehen/laufen?“ Beides nicht ok.

Zu einem Menschen mit Zwangsstörung sagt man aber auch nicht (als Beispiel) „dann kontrolliere doch einfach nicht ne Stunde lang, ob der Herd aus ist“, man sagt aber auch nicht „ach, hihi, da bin ich auch oft unsicher“ (das ist klein-reden von Problemen). Und es war noch keinem Menschen mit Depressionen eine Hilfe, wenn man ihm sagt „geh öfter spazieren, und lache auch mal öfter“. Genau so können Menschen die lachen Depressionen haben. Und so weiter.

Ja, das sind für einige Menschen nun vermutlich selbstverständliche Dinge, aber im Alltag merkt ein Betroffener, dass diese Dinge eben nicht selbstverständlich sind. An dieser Stelle kann sich jeder, ob Neurotypisch oder Neurodivers, ab und zu selbst reflektieren. Fehler sind nicht schlimm, sie so zu belassen schon.

In beiden Fällen sind Menschen individuell mit Stärken und Schwächen.

Nun aber zum eigentlichen Thema: Gedanken, Gefühle, Handlungen und Absichten (eines Anderen) einschätzen (können). Ein eher persönlicher Beitrag. Mit Triggerwarnung: Häusliche Gewalt

Aufgrund der allgemeinen Fremdsprache, von der Autist:innen mal mehr und mal weniger umgeben sind, (welche im gestrigen Thema „Kommunikation“ etwas behandelt wurde), ist es eingeschränkt, diese „gute Menschenkenntnis“ zu besitzen. Inzwischen, Aufgrund von Erfahrungen, besteht meine Menschenkenntnis aus einer Skepsis aus Prinzip. Das war aber nicht immer so, daher wühle ich ein wenig mehr in meiner Jugendzeit herum.

Wenn mich das durchgehende Mobbing in der Schulzeit eins gelehrt hat, dann so angepasst wie möglich zu sein. Das hat nicht so gut geklappt. Daher habe ich es später mit der Unsichtbarkeit versucht. Das habe ich inzwischen perfektioniert. Vor vielen Jahren ging das tatsächlich sogar schon mal so weit, dass mich das Einwohnermeldeamt nicht fand – nein, ich war nicht obdachlos. Ich musste ehemalige Adressen aus meinem Kopf kramen, (wir sind sehr oft umgezogen) an die ich mich kaum noch erinnern konnte. Hat dann aber geklappt. Aber zurück zum anpassen.

Ich erinnere mich, dass ich sehr oft in der Klasse saß, mich langweilte und dann die Personen beobachtete. Zwischenzeitlich war ich bekannt, als die gruselige Gedankenleserin. Das war aber nur ein kleiner Grund für das Mobbing. Denn abseits davon, hatte ich damals noch kein Problem damit, die Menschen einfach so anzusprechen. Und ich sprach ehrlich aus, was ich dachte. Ich fragte sie zum Beispiel, ob sie etwas bedrückt. Die Reaktionen darauf waren nicht positiv. Ich denke, dass ich einfach nur lernen wollte, wie ich die Mimik einordnen kann. Irgendwann ließ ich das bleiben bei diesen Personen. Ich beobachtete aber dennoch immer weiter. Und die Mädchen, die immer eine Freundin oder einen Freund bei sich hatten, diese Mädchen, auf die man gewartet hat, die, die interessant waren, sich interessant für alle anderen gemacht haben, die hatten immer einen Jungen an ihrer Seite. Es ging meist um die neuste Mode, (in dem Punkt habe ich aufgegeben, bevor ich begonnen habe) um die besten neuartigen Geräte, die zu der Zeit auf dem Markt waren (Nokia war noch beliebt und der Discman erfüllte seinen Zweck, sofern man regungslos dastand). Aber das Wichtigste waren die Jungs. Am besten jede Woche einen neuen. Von ein paar Ausnahmen mal abgesehen, die immer nur Jungs von außerhalb hatten, oder eine längere Beziehung, wo man sich dann gegenseitig mit ewiger Liebe zugesülzt hat. Letzteres wurde natürlich beneidet.

Irgendwann hatte ich dann auch einen Jungen von außerhalb und verbrachte meine Wochenenden dort. Und ich tat das, was erwartet wurde. Ging auf Partys, trank, rauchte, und darunter waren auch Dinge, die ich öffentlich gar nicht erwähnen mag. All das war „normal“ für mich. Ich war außerhalb, niemand wusste, dass ich anders war. Und viele Jahre war es ebenfalls normal für mich, seelische und körperliche Wunden hinter einem glücklichen Lächeln zu verstecken. Ich war Ende dreizehn/Anfang vierzehn. Aber ich konnte mich gelegentlich genauso interessant machen, wie die anderen Mädchen, wenn auch nur für kurze Momentaufnahmen.

Ich nahm an, dass Zwang und Gewalt hinter verschlossenen Türen, manchmal bis zur Bewusstlosigkeit etwas ist, was in einer Beziehung ganz normal ist. Und ebenso normal, diese bestmöglich vor allen zu verbergen, denn das taten die Anderen auch, so nahm ich es an. Niemand sprach darüber. Alles war immer toll, also war es das bei mir auch. Ich sah die Menschen immer nur händchenhaltend verliebt. Und so sah ich eben auch aus. Es war auch normal, mein Geld immer an diesen Jungen abzugeben und selbst nicht viel zu Essen. Es war normal, all das zu tun, was von mir erwartet wurde, was die anderen auch taten, oder womit ich sie vermeintlich beeindrucken konnte. Ob nun in der Schule (das klappte eher nicht), oder eben außerhalb, wo es meist gut klappte.

Als dieser Partner nach zwei Jahren endlich die Beziehung beendete, freute ich mich wie nie zuvor. Gelernt hatte ich leider nur das, was ich bis dahin eben gelernt hatte. Denn bei meinem Exmann, mit dem ich kurz darauf eine Beziehung einging, war es wohl noch schlimmer. Dass das nicht normal ist erfuhr ich erst, als ich bereits erwachsen war. Eine Sachbearbeiterin fragte mich nach meiner Ehe und wollte mich in ein Frauenhaus stecken – mehrfach. Sie war die erste Person, die mich gezielt fragte und die mir daraufhin sagte, dass das nicht normal ist und mir auch beantwortete, was genau nicht normal ist und wie es eigentlich sein sollte. Ich selbst habe diese geballte Normalität nie in Frage gestellt. Ich fragte mich allenfalls, weshalb andere Menschen das so erstrebenswert finden.

Damit schließe ich nicht aus, dass das auch nicht-autistischen Menschen passiert. Würde jedoch die Behauptung in den Raum werfen, dass das im allgemeinen nicht als „normal“ angesehen wird, sondern die Tatsache (zum Beispiel aufgrund von Emotionaler oder Finanzieller Abhängigkeit) eher verdrängt wird. Das macht es weder leichter/schwerer und auch nicht besser/schlechter. Aber hier geht es eben um meine autistische Wahrnehmung.

Nun, was im allgemeinen „Naiv“ genannt wurde, stellte sich als autistisch heraus. Inzwischen habe ich erfahren, dass häusliche Gewalt bei Autist:innen relativ häufig passiert. Bis heute empfinde ich das im Übrigen nicht als schlimm, denn es war ja normal. Am Ende war es sogar normal, sterben zu wollen.

Und auch heute habe ich noch Probleme, Menschen einzuschätzen. Fragen wie: was machst du, warum gehst du, wohin, was machst du da, warum machst du das, was fühlst du, etc…Ich glaube, wenn ich hier zu Hause jedes mal nen Euro bezahlen müsste, wenn ich das Frage oder gar hinterher laufe, um zu gucken, dann würde ich sehr schnell, sehr viel Geld ausgeben. Aber diese Fragen habe ich mir einfach angewöhnt, weil ich eben andernfalls überhaupt nicht einschätzen kann und dies dann mit großem Stress und Unsicherheit einhergeht.

Wie sich das im Alltag bemerkbar macht, kann ich kaum sagen, weil ich mich dazu viel zu selten in solche Situationen begebe. Damals wurde es wohl zum Teil sehr gefährlich, aber heute bin ich eben skeptisch. Halte Abstand, beobachte und muss nicht mehr dazu gehören.

EDIT: Nach dem Besprechen mit einer meiner Bezugspersonen komme ich zu der Entscheidung, hier die Kommentare auszustellen.