Obskures Einhorn

Ich bin Realistin. Ja, auch Pessimistin. Vielleicht sogar ein bisschen Optimistin, gelegentlich, wenn sich die Gelegenheit bietet. Wenn ich etwas erwarte, dann zugleich alles und nichts. Murphys Law nicht zu vergessen, sogar bevorzugt im Fokus stehend. Das verhindert nicht den Schmerz, aber man kann sich selbst guten Gewissens sagen: „Ich hab’s dir ja gesagt“. Und da würde ich gern sagen, dass mich nie etwas überraschen kann, aber selten passiert das doch. Es passiert eben viel, das ist immer so, bei jedem. Es ist immer viel passiert, die Geschichte, die wir kurz halten wollen, ist in Wahrheit immer lang. Und dann gibt es diese Menschen, da findet die Geschichte weder Anfang noch Ende. Das sind diese Geschichten, über die man nicht spricht. Nicht etwa weil man es nicht möchte, sondern weil sie nicht erzählt werden können. Was auch immer diese Geschichte aber gewesen sein mag, sie ist es, die uns ausmacht. Die Dinge, die in keinem Albtraum vorkommen, die Wahrheit, aus der man nicht so einfach aufwachen kann. Daraus sind wir entstanden. Wir, die Menschen mit den endlosen Geschichten.

Und trotzdem, selbst wenn wir nicht über diese Vergangenheit sprechen wollen, weil wir sie verdrängen, vielleicht noch verarbeiten, oder sie einfach nichts mehr in der Gegenwart und der Zukunft zur Sache tut, sie macht uns dennoch aus. Wir sind das Resultat aus dieser Geschichte, aus unserer, ich aus meiner. Und manchmal wird man der verschlossenste Mensch, dem man begegnen kann. Nur damit dieses albträumen ein Ende findet, damit Ruhe einkehrt, Verlässlichkeit in einer Welt, in der nichts wirklich sicher ist. Unweigerlich wird jeder Mensch einem Test unterzogen. Nein, nicht mit Papier und Kugelschreiber. Viel härter ist dieser Test. Er testet jedes Wort, jeden Atemzug, jede Regung, dieser Mensch wird durchleuchtet, wieder und wieder, jede Handlung wird hinterfragt. Jede Sekunde wird beurteilt. Der Test startet sofort und endet, wenn ein Bestehen ausgeschlossen werden kann. Und dieser Test wird nicht wiederholt.

Denn damit sich diese Menschen, wenn auch nur für die Gegenwart und die Zukunft wahrhaftig öffnen, braucht es ein Testergebnis von 100%. Was, wie soll es anders sein, vollkommen unrealistisch ist in dieser Welt, in der gar nichts sicher ist, mal abgesehen von der Unsicherheit. Fair ist dieser Test auch nicht. Es werden keine Fragen gestellt, keine wichtigen. Jemand sagte mir mal „Lass die Menschen reden, sie erzählen ihre Geschichte“. Nun, die Geschichte ist irrelevant. Aber das, was die Geschichte aus diesen Menschen gemacht hat, das ist wichtig. Und sie leben es, zeigen es, strahlen es aus. Ich bin nicht sicher, wie ich bei all diesen Tests abschließe. Es kommt ja niemand daher und erfragt sein Ergebnis, so auch ich nicht. Aber ich denke man merkt es, wenn man bestanden haben sollte. Nicht jeder Mensch braucht diese 100%. Aber diese Menschen mit den nie enden wollenden Geschichten, diesen Albträumen, sie brauchen diese 100%. Wie gesagt, bin ich aber auch Realistin und lasse auch 99% noch durch. Nicht so ganz geöffnet, aber sehr viel.

Eine Sache, die ich dabei nicht zugeben mag, die aber bei diesen Menschen mit den nicht enden wollenden Geschichten durchaus häufiger vorkommt ist, dass sie Träumer sind, irgendwo versteckt, in der Nacht, im Hinterkopf, in der Stille, in der Einsamkeit. Es sind die zerbrochenen Menschen, die Stärksten der Starken. Und ich glaube an echte Magie, an das Unrealistische, an diese 100%, an die wirklich wahre Liebe, an Bedingungslosigkeit, an verwandte Seelen, an das Gute und an die beständige Ewigkeit. Ja, das ist das Selbe wie an die Existenz von Einhörnern zu glauben. Besonders, wenn der Test so gnadenlos hart ist, wie meiner es ist. Aber es handelt sich dabei nur um ein Geheimnis. Ich bin also eine Realistin die stets alles erwartet, erfahrungsgemäß Murphys Law, das Unerwartete, das zu erwartende.

Und dieses obskure Einhorn.