Ü30 Party

Mit meinen…ich halte mir die Hand vor den Mund und nuschele unverständlich eine Zahl in sie hinein…Jahren, merke ich so langsam, aber gewiss: Ich werde alt. So bin ich doch damals – und „damals“ klingt nach einer kleinen Ewigkeit, nach einer Zeit, in der ich den Euro noch nicht in DM umrechnen musste, um mich darüber zu beklagen, wie teuer doch alles geworden ist, weil es den Euro noch gar nicht gab – morgens um sechs Uhr aufgestanden, fit wie der sprichwörtliche Turnschuh, brauchte noch keinen Kaffee, um den Kadaver hochzufahren und hörte nicht das Knacken müder Knochen, spürte nicht das aneinander reiben angestrengter Gelenke und dachte nicht als erstes darüber nach, welches Verdauungstreibendes Frühstück mir wohl heute den Tag erleichtern wird. Es begrüßte mich lediglich die Sonne. Heute, so nehme ich an, bin ich beliebter geworden. Begrüßt mich doch nun auch mein Rücken und mein Körper, der flehend darum bittet, die Zubettgehzeit an die eines Kleinkindes anzugleichen.

Und so schleppe ich mich aus dem Bett, befinde mich nach drei Versuchen in einer leicht gebückten, beinahe aber aufrechten Position. Bereit zu starten – langsam. Schleiche mit zermatschtem Gesicht teilnahmslos Richtung Küche, zielstrebig steuere ich den besten Freund des Menschen an, streichle sanft entlang eines kleinen Knopfes und warte auf das schnurrende Geräusch, das mir sagt: Gleich gibt es Kaffee. Hach, so denke ich, wäre doch alles so leicht, nehme mir meinen Kaffee und setze mich auf die Couch. Die Couch, die Böse. Bequem, ja, eine Weile lang. Doch sinke ich mit jedem Schluck tiefer in sie hinein, werde mir jedoch der Tatsache bewusst, dass ich gleich wieder aufstehen muss. Damals, damals dachte ich nicht darüber nach. Heute bin ich überzeugt: Das ist Frühsport, der mir mit diesem Möbelstück aufgezwungen wird! Wieder.. Denn auch mein Bett hatte bereits diese Ambitionen.

Aber die Couch ist noch mal eine Sache für sich – eine olympische Disziplin fürs Alter im Home Office. Das Ziel: aus der tiefsitzenden Versunkenheit heraus freihändig in die stehende Position zu kommen. Und das mit nur einem Versuch! Puh. Manchmal klappt das sogar. Und dann blicke ich wie wild umher, rufe laut: „hast du das gesehen????“ „Was?“, murmelt es aus der Küche. „Na, ich brauchte nur einen Versuch!“ Ein Grummeln kommt zurück. – Ach, verdammt! Es ist wirklich mies, wenn dies keiner gesehen hat und löst sogleich den absolut leichtsinnigen Reflex in mir aus, diesen hochgradig komplexen Bewegungsablauf erneut bestehen zu können. Also setze ich mich wieder hin, starre freudestrahlend auf und sage hoffnungsvoll wie ein Kind, das zum ersten mal Fahrrad fährt: „Guck mal!“ Aber, wie das so ist, klappt es nicht. Wir schieben das dann auf den Vorzeigeeffekt, statt aufs Alter. Ein kleiner Trost für den Augenblick und ein festhalten am vorangegangenen Erfolg. Das Leben geht weiter.

Also gehe ich nach meinen zwei Versuchen wieder in der Aufrechten Richtung Küche, bereite mir meine Haferflocken samt Beeren zu einem altersgerechten Brei: die jungen Leute nennen das neudeutsch Porridge. Und setze all meine Hoffnungen in die darin enthaltenen Ballaststoffe. Aber keine Sorge! Notfalls steht ergänzend auch noch ein abartig schmeckender Pflaumensaft bereit, falls nicht einmal das dreißigmalige Kauen jeden ballaststoffhaltig gefüllten Löffels meiner Verdauung zuträglich sein wird. Doch für diese Gedanken ist es noch zu früh und überhaupt habe ich gar keine Zeit. Ich muss mich sputen! Immerhin ist es bereits sieben Uhr am Samstag und der erste Blick in den Spiegel gleich nach dem Aufstehen verriet mir das heutige Ziel: Ich muss einkaufen. Dringend!

Ich schleppe mich also wieder zurück ins Badezimmer, denke über eine belebende, leicht kühle Dusche nach, entkleide mich des Morgenmantels, friere umgehend, schalte die Fußbodenheizung an und stelle die Wassertemperatur dann doch lieber auf kuschelige 39° mit leicht steigender Tendenz. Anschließend entscheidet ein letzter prüfender Blick aus dem Fenster über meine Kleidung. Das Wetter ist demnach heute das, was damals die Mutter war, kann mir jedoch deutlich besser vorgaukeln, dass ich selbst entscheiden dürfte, wiege mich in der scheinbaren Gewissheit schon groß zu sein und schreite relativ selbstsicher zur Wohnungstür. In dieser steckt der Schlüssel, damit ich ich nicht vergesse…ein Schlüsseldienst kostet schließlich um die 200DM und wenn ich ein wenig angeflunkert werde, dann könnte mich die simple Türöffnung auch 500DM kosten.

Im Auto bemerke ich, dass ich tanken muss, der Preis hierfür liegt bei günstigen 3,66DM pro Liter – und beinhaltet ein Moment des Glücks, da sich ja meine Kosten bzgl. eines Schlüsseldienstes auf 0DM belaufen. 142,74DM später geht es mit aufgefülltem Tank weiter zum Drogeriemarkt. „Hach“, denke ich nostalgisch, „bei Schlecker oder Ihr Platz würde mich mein bevorstehender Einkauf nichts kosten“ Vielleicht haben diese Geschäfte deshalb nicht überlebt. Aber so sind die Dinge ja immer: vergänglich. „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ – sing –

Auf meiner Strecke bemerke ich an einer roten Ampel am Straßenrand ein kleines Reklame Pappschild, befestigt mit Kabelbindern an einer Laterne. Alle Jahre wieder üblicherweise gespickt mit mal mehr und mal weniger gut durchdachten Flunkeleien bekannter und unbekannter Parteien. Was täten wir nur ohne den Massenansturm haltloser Wahlplakate. Aber befestigt sind sie gut mit diesen Kabelbindern. Dieses Schild enthielt aber einen gravierenden Fakt, eine Wahrheit, eine Party. – Ü30 Party – leuchtet mich in dick-gedruckten gelben Buchstaben auf rotem Grund an. Die Augen lassen nach…da muss es etwas auffälliger sein. Aber das kann ich dann doch noch lesen. Und ich überlege: „Hm, da dürftest du schon ’n Weilchen hingehen…hmmmmm…“ Womit habe ich das nur verdient, jaule ich wie ein einsamer Wolf melancholisch den Mond anheult tief in mich hinein. Werde aber sodann erleichtert: am 26.03.2023

„Ach, wie schade“, lächle ich fröhlich auf meinem weiteren Weg durch die Straßen: „verpasst“.

Natürlich kann ich ganz locker sagen, die Frage, die gelegentlich gestellt wird, einwandfrei beantworten…zumindest nach kurzer Überlegung. „Wie alt bist du denn?“, fragen die Leute. „Neunundzwanzig!“, antworte ich. „Wie lange denn schon?“ Nun, eine Weile, oder um es präziser auszudrücken: das geht dich ’n feuchten Scheißdreck an. Und in fünfzig Jahren, ich bin optimistisch, wird irgendein fremder katholischer Priester verkünden: „die Wege des Herrn erscheinen uns nicht immer logisch, manchmal gar grausam und wir alle fragen uns möglicherweise in Trauer: Warum musste diese junge, knackige, faltenfreie neunundzwanzigjährige Frau von uns gehen?“ So, oder so ähnlich. Ich möchte niemandem seinen Job erklären, aber das „knackig“ sollte in einer herzergreifenden Rede vorkommen und nicht verwechselt werden mit knackigen Knochen und einer künstlichen Hüfte.

Aber so weit möchte ich gerade nicht planen. Denn angekommen schreite ich in den Drogeriemarkt, kaufe Farbe für 20DM, schlängele mich durch den zwischenmenschlichen Kram, der mir zusätzlich zum bezahlen einen freundlichen Gesichtsausdruck samt des Wünschen eines schönen Tages abverlangt, krieche verausgabt zum Auto zurück, bemühe mich möglichst unsichtbar in meine Wohnung zurück, entspanne bei der zweiten und absolut verdienten Kaffeetasse auf dem Balkon und klatsche mir den Topf voll Farbe auf den Kopf: „Hach, gleich fünf Jahre jünger“, sage ich meinem Spiegelbild, während es in meinem Bauch langsam, aber pünktlich wie die deutsche Bahn zu blubbern und zu rumoren beginnt.

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