Autismus Erfahrung: Roomtour

Der Titel ist sowohl zutreffend, als auch irreführend. Ich zeige euch nicht die Räumlichkeiten, in denen ich lebe, sondern die Räumlichkeiten, die in mir leben, worin ich lebe. Diese Idee finde ich sowohl spannend, denn ich habe Gelegenheit, selbst mal genauer hinzuschauen, als auch bereits im Vorfeld frustrierend, weil ich weiß, dass ich es unmöglich schaffen kann, alles zu zeigen, bzw. in diesem Fall zu beschreiben. Hab da oben nämlich keine Kamera. Darüber hinaus mag ich es überhaupt nicht, Menschen, mit Ausnahme von mir, dort oben durchlatschen zu lassen. Daher bitte ich euch die Handys auszuschalten, die Schuhe auszuziehen und in die bereitgestellten flauschigen Häschenpantoffel zu steigen. Und nicht reden, leiser atmen und vor allem nichts anfassen!

Durch eine große, schwere, alte Holztür gelangt ihr in den Flur, einen unendlich langen Flur, links und rechts an den Wänden hängen alte Gemälde, keine wertvollen, irgendwer hatte sie weggeworfen und ich habe sie vom Sperrmüll gerettet. Schwache Flammen von Kerzen an den Wänden sorgen gerade so eben für ausreichend Licht, um euch angemessen begrüßen zu können. In gleichbleibenden Abständen führen Türen in meine zahlreichen Zimmer. Dieser Flur hat kein richtiges Ende, was wie ein Ende erscheint ist nur die Dunkelheit, die sich von euch entfernt, je näher ihr dieser kommt. Beachtet nicht das kleine süß-lächelnde Mädchen mit engelsgleichem Gesicht und goldenen Löckchen im weißen Nachthemd und einem großen Fleischermesser in der Hand. Sie wird euch höchstwahrscheinlich nichts tun, sie summt nur die Tetris Melodie.

Wir gehen vorbei in den ersten Raum. Er ist der größte von allen und der, der mir am wenigsten bedeutet. In ihm ist es laut und schrill, skurril und alles redet in verschiedenen Sprachen durcheinander. Er speichert jeden Tag, in jeder Sekunde alles, was mich umgibt, überall fliegt nutzloses Zeug in der Gegend herum, Notizzettel regnen von der Decke, Garfield tanzt zu „Hey Mama“ und schmeißt alles um, in der Ecke sitzt Hannibal Lecter und bereitet sich in tiefer Entspannung seine Leibspeise zu. Im Hintergrund laufen die Top 1.000 schlechtesten Lieder, dessen Texte ich aus irgendeinem Grund auswendig mitsinge…“Maschendrahtzaun in the morning“ (nur damit ihr auch etwas davon habt). Dieser Raum ist schrill, er glitzert ohne System, er ist laut und unordentlich, geradezu verdreckt mit dem Müll der ganzen Welt. Schlechte Nachrichten stapeln sich entlang der Wände bis an die Decke, auch sie verschwindet im dunkeln ohne Ende. Für dieses grenzenlos-gnadenlose Messi-Erlebnis sollte ich Eintritt verlangen. Wer jedoch auf einen übriggebliebenen Legostein tritt und stürzt, der braucht nicht zu zahlen…mein Lachkrampf ist ausreichend.

Jeder darf sich nun einen der kleinen Äffchen mit Becken greifen und mitnehmen. Wie ihr seht habe ich genug davon. Und nach der überwältigenden, Luft-raubenden, ungefilterten Reizüberflutung habt ihr ein Souvenir verdient. Ach, und ich hoffe ihr stellt euch das ganze im Stil von MTV Cribs vor…würde mich dann fancy und important fühlen. Bitte keine Zwischenfragen nach einem Getränk, einer Toilette oder einem Sitzplatz. Solche Dinge gibt’s hier nicht. Naja, einen Stuhl gibt es vielleicht. Geht einfach in den eben grob gesehenen Raum zurück, irgendwo müsste da ne verrückte Olle sitzen, die den ganzen Tag TikTok Videos guckt und dabei hektisch herumzappelt. Manche verfolgen ja das Motto: Lieber schlecht gesessen, als gut gestanden. Die Tour geht trotzdem weiter.

Ein wenig den Flur hinunter wird hart gearbeitet. Fließbänder laufen den ganzen Tag, um sie herum kaum zählbare Mitarbeiter, ein rennen und treiben und kein freier Tag in Sicht. Wer sich ihnen anschließen möchte muss produktiv sein und das 24/7. Das Arbeitsschutzgesetz kennt hier zum Glück niemand. Aufregend ist anders, ich weiß, in all der Hektik herrscht Monotonie. Also weiter, im Nächsten Raum müssen wir sehr leise sein! Den Zustand des Raumes kann ich vor dem betreten nie so richtig einschätzen. Er ist ebenfalls riesig und scheint ungeordnet, überall liegen Zettel herum, aber sollte die geschundene Seele darin in guter Verfassung sein, könnt ihr sie ansprechen, doch mit euch reden wird sie niemals. Noch nie hat sie ihr Schweigen gebrochen. Es duftet nach Liebe, nach Sehnsucht, nach Kummer und amouröse Gedanken schweben an der Decke. In den Ecken tun sich finstere Abgründe auf und an der Bar gibt es Cocktails mit Schirmchen und Blut. Manchmal hört man diese Seele atmen, trotz der stickigen Luft, immer dann, wenn sie von einer Muse geküsst wird, sie durchströmt, mit ihr tanzt, sie streichelt und einen weiteren Kratzer hinterlässt. Ganz kurz duftet es dann nach Glückseligkeit und ein weiterer Zettel ist zum abtippen bereit. Den Teil erledige ich dann…irgendetwas muss ich ja auch tun, zumindest wirke ich dann so beschäftigt. Aber kommt weiter, die Seele beginnt zu schluchzen und ich möchte nicht ertrinken.

Vor dem Nächsten Raum braucht ihr keine Angst zu haben, nur weil ein Skelett vor der Tür steht. Ihr könnt es gern betrachten, mir jedoch ist es egal. Solltet ihr euch für Humanmedizin interessieren, dann kommt gern mit herein. Keine Sorge, die offene Leiche ist fiktiv und fast vollständig. Die Leber fehlt…gewiss war Lecter wieder hier. Nun ja, egal. Hier drin befindet sich mein wertvollster Besitz. Die unvollständige Geschichte bahnbrechender Erfindungen und Entdeckungen von Apparaturen und Medikamenten, die uns bestenfalls das Leben etwas verlängern. Bücherweise Anatomie, Physiologie und Pathologie, die ich seit der Kindheit aufsauge. Ein kleines Bisschen Psychologie ist wohl auch irgendwo dazwischen. Nur das Skelett steht halt draußen und begnügt sich mit dem Nötigsten. Also weiter.

Es werden keine Raumanzüge benötigt und trotzdem können wir nach den Sternen greifen, durch Galaxien schweben und schwarze Löcher aus nächster Nähe vom Ereignishorizont aus betrachten. Wem die Lichtjahre zu weit entfernt sind, der möge sich auf den Boden setzen und nach einer beliebigen Doku fragen, ich erzähle sie euch. Wem mein Gerede auf den Keks geht, der greife nach meiner Zeitschriften-Sammlung, bitte vorsichtig, die kosten um die fünfzehn Euro das Stück, ich will keine Eselsohren sehen. Die Suche nach meinem Heimatplaneten wird vermutlich bis in die Ewigkeit dauern.

Im Nächsten Raum bleibt ihr am besten dicht hinter mir. Die Zombies sind schnell und wie man sich denken kann, sind die recht bissig. Das hier ist keine Einbildung, es ist Realität! Na ja, zumindest ist mein Plan für eine Realität mit Zombies konzipiert. Von Werbung bzgl. „Zuflucht“ möchte ich absehen. Mein Plan benötigt zwar einige andere Menschen, aber ich bin sicher, die kommen auch so. Ich möchte so wenig wie möglich von den bösen Lebenden anziehen. Die guten Übriggebliebenen dürfen eintreten. Hier ist genug Platz und es gibt viel Arbeit. Und ihr seid ja gerade auch da. Und wenn das hier fertig ist, da uns die Besorgung benötigter Dinge leicht erschwert wird, wird es eine Weile dauern, aber dann haben wir Strom aus Solarenergie, wir bekommen Wasser und stellen unsere Nahrung selbst her. Denn irgendwann wird es nichts mehr zum plündern geben. Daher liegt der Fokus von Anfang an auf der Selbstversorgung. Das Schwierigste war das Waffenproblem, ist aber gelöst. Alles andere war schnell zu erlernen. Nun, das reicht, ist schließlich mein Plan, davon verrate ich nichts. Von dieser Welt freue ich mich über jeden luziden Traum. Aber ich verstehe schon, schnell wieder raus hier. Ist ja auch nur so für den sehr unwahrscheinlichen Fall.

Beim rausgehen bitte die plüschigen Häschenpantoffel austauschen und die mit zermatschtem Zombiehirn in den Müllsack, danke.

Nun, die vor uns liegenden Zimmer sind nicht allzu groß. Darin sind Persönlichkeiten, die mich interessieren…die meisten sind schon lange tot. Sehr viel Geschichte, allgemeines Geschichtswissen, interessante fun facts. Geschichte der schwarzen Menschen, Sklaverei, Kolonialismus, NS-Zeit, ein wenig Mittelalter, und worüber ich noch so ständig stolpere. Halten wir es hier kurz, es sind halt ein paar Bibliotheken.

Die übrigen Raume sehen nicht mehr allzu spannend aus. Decken hohe Schränke, schmale Gänge, alles voller kategorisierter Akten, randvoll mit den Informationen, die meine Arbeiter für wichtig befinden, auf ewig archiviert. Bitte nur nichts anfassen oder gar austauschen, das führt zu nem Kurzschluss im System. Und immer bei der Gruppe bleiben, das hier ist ein Labyrinth. Ich führe euch da durch und hoffe, ihr könnt in den Pantoffeln wandern. Die Zeit können wir nutzen um zu quatschen. Ich rede und ihr hört zu. Diese kleine Führung fiel mir alles andere als leicht, wenn man bedenkt, dass ich euch gerade mal einen winzigen Teil der Oberfläche gezeigt habe und ich selbst alles auf einmal und immer zur selben Zeit sehe. (Das erklärt das Mädchen am Anfang). Während mein Messi-Raum immer größer wird, pausenlos. Ich glaube meinen Heimatplaneten erkenne ich daran, dass es dort keine Farben gibt, keinen Müll und der Austausch ist auf das Nötigste reduziert, es gibt nur eine kleine Auswahl an Nahrungsmitteln, alles ist einheitlich und eintönig. Ich habe keine Ahnung wie es in anderen Gehirnen aussieht und ich will es auch gar nicht mehr wissen, denn das würde auch nur wieder in meinen Akten landen. Um es mit Murtaugh zu sagen: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß“.

Manchmal wünsche ich mir, die richtige Verbindung zu finden, die im autistischen Hirn falsch verkabelt wurde (kann ich meiner Mutter wohl die Schuld dafür geben?) Will nicht sagen, dass es in anderen autistischen Hirnen auch so aussieht, bzw. wie in diesem Fall ein kleiner Teil der Oberfläche, das hier ist eben meine Beschreibung. Und inzwischen bin ich reichlich müde, daher bitte ich euch, eure Souvenirs einzustecken, die Pantoffel dürft ihr auch behalten. Normalerweise lese ich die Texte noch mal durch, aber dieses mal ist mir nicht danach, von daher dürfen Unstimmigkeiten und Fehler auch behalten werden. Wobei ich mir schon ein wenig wünsche, dass niemand bis zum Schluss gelesen hat. Denn obwohl es nur ein bisschen Oberfläche war, ist das Gefühl von nackt mitten am Tag im Einkaufszentrum stehen definitiv da. Egal, da vorne seht ihr das kleine Mädchen…geht einfach wortlos daran vorbei und schließt die Tür, wenn ihr draußen seid. Auf nimmer wiedersehen, also hier oben.

6 Kommentare

  1. Sehr interessante Idee mit dieser inneren Tour. Ich denke auch, hier und da wird sich auch immer etwas verändern, bewegen, schieben oder verscheinden und womöglich woanders wieder auftauchen.

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    1. In der Regel ist alles an seinem Platz und gut sortiert, aber nicht so übersichtlich, wie hier beschrieben. Eher wie ein großer Knäuel.

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