Einundzwanzig Uhr im Winter, stehe an der Bushaltestelle. Gegenüber im Rewe kaufen Menschen noch ein, und ich überlege, denn ich müsste auch einkaufen. Zu Hause im Kühlschrank wartet nur noch ein angebrochenes Glas Marmelade und eine halbe Packung Mehl steht im Schrank. Aber ich bin zu erschöpft von der Arbeit, von meinem Leben. Dann gibt es eben wieder Pfannkuchen ohne Ei, ohne Milch, ohne Zucker, ohne Salz. Ich hätte ohnehin nur noch fünf Euro, die ich doch lieber in die Zigaretten danach investiere.
Mein Geld für diesen Monat habe ich vor wenigen Tagen beinahe restlos aufgebraucht, um ihm etwas bieten zu können, als würde es etwas nützen. Mehl mit Wasser in einer beschichteten Pfanne, garniert mit feinster billig Marmelade. Etwas, worauf ich mich freuen kann, sofern ich meine Endhaltestelle nicht verschlafe. Komische Gestalten laufen in der schwach beleuchteten Laternendunkelheit an mir vorbei, aber ich spüre keine Angst. Mir ist nur kalt und ich bin so müde. Und was soll schon passieren. Ich nehme es, wie es kommt. Was passiert, passiert und was nicht passiert, passiert eben nicht. Im Moment weiß ich nicht, ob ich mich wehren würde. Mir ist alles egal, ich will nur schlafen.
Endlich kommt der Bus, um diese Zeit zum Glück nicht mehr so voll. Ich mache mir gern Gedanken über die Menschen, die dort sitzen. Sind sie glücklich? Wie definieren sie Glück? Hat der Mann mit der großen roten Nase ein Alkoholproblem, oder ist ihm auch nur kalt? Kommen die zwei Jugendlichen in ein warmes zu Hause oder liegt ihre Zukunft bereits in Scherben? Und die wichtigste aller Fragen: Hat hier schon mal jemand einen Mord begangen? Der schicken Lady, die im Bus etwas fehl am Platz scheint, der würde ich es zutrauen. Vielleicht nicht mit einem Messer. Eher so nach dem Motto: es war ein Unfall. Ganz so als hätte sie nicht gewusst, dass man dem achtzigjährigen Millionär keinen Fisch zum essen serviert, den sie zuvor Wochenlang hinterm Trockner gelagert hat. Immerhin halten mich die Gedanken wach. Und wie immer, würde ich gerne auf dem hüpfenden Sitz des Busfahrers sitzen. Dieses auf und ab Gewippe wirkt geradezu hypnotisch.
Einundzwanzig Uhr fünfundvierzig, Endhaltestelle. Fast vierhundert Schritte bis in die beste Dachgeschosswohnung, die ich für einen kleinen Preis auftreiben konnte. Dreißig Quadratmeter, aber sie gehören mir. Besser als das Leben zuvor ist sie allemal. Eingerichtet mit dem Geld, welches ich mühsam zusammenkratzen konnte. Schön ausdrücken kann ich es mit minimalistisch und nachhaltig kreativ zusammengewürfelt, aus gebrauchten Möbeln. Viele Menschen wissen gar nicht zu schätzen, dass sie eine Einbauküche, eine Waschmaschine und weiteren Luxus ganz selbstverständlich in ihrer Wohnung stehen haben. Immerhin lerne ich hier gerade fürs Leben. Um weiter positiv zu bleiben.
Angekommen begrüßen mich meine Katzen, immerhin sie haben Essen, welches sie nun bekommen. Das ist das Wichtigste. Klamotten abwerfen, die Mehlpampe…ich meine die Pfannkuchen anrühren und die Marmelade drauf klatschen. Und mit einem mal sieht das Katzenfutter ungewöhnlich lecker aus. Aber ich muss mich beeilen. Nicht etwa weil ich müde bin, naja schon, aber hauptsächlich, weil ich den Haushalt noch gemacht haben muss, damit für morgen alles perfekt ist. Oder besser gesagt, möglichst perfekt wirkt. Duschen gehe ich nicht mehr, das dauert mir heute zu lange. Dreiundzwanzig Uhr, das Bett ruft sehnlichst, ich rufe zurück. Es bleibt mir nicht mal Zeit für meine tiefe Traurigkeit. Den Wecker auf halb zwei, viertel vor zwei und zwei Uhr gestellt, denn ich darf nicht verschlafen.
Denn um drei Uhr kommt er. Und ich muss vorher noch duschen, um ihm frisch fertiggemacht, glücklich wirkend den Kaffee zu servieren, den ich auch kaufe, obwohl ich ihn nicht trinke. Ich bin so dumm, so dumm, so unglaublich dumm. Aber es lohnt sich.
Drei Stunden später stehe ich völlig ermattet auf, springe unter die Dusche, erledige letzte Handgriffe in der Wohnung und stehe ihm zur Verfügung, mit allem, was er will. Der beste Sex, den jemals jemand gehabt hat, ist keine Belohnung für mich, obgleich seine Begierde bis in meine tiefsten Ängste vorzudringen vermag und sie für einen kurzen Moment sanft in Sicherheit küsst. Ich spüre Verzweiflung, mein gebrochenes Herz und meine zerfleischte Seele, die ich nicht herauslassen darf in der dringenden Hoffnung, dass er dieses mal bei mir bleibt. Es geht mir um den Moment danach, in dem er glücklich ist und seine Augen mich anschauen, als wäre ich die einzige für ihn. Fast so, als hätte ich eine Prüfung bestanden, nur bekomme ich keine Urkunde, sondern einen Stempel aufgedrückt. Mätresse.
Fünf Uhr, er geht. Wie immer. Ernüchterung. Und ich gehe noch mal duschen, wasche mir den Dreck ab und warte auf die Arbeit. Weinen kann ich schon lange nicht mehr, nur noch so in mich hinein. Was sollte es auch nützen, heute Abend werde ich es wieder eilig haben, werde wieder drei Stunden schlafen und ihm wieder den Kaffee servieren. Vielleicht bleibt er ja morgen bei mir. Vielleicht. Es tut weh ihn so bedingungslos zu lieben, doch ich tue es. Ich bin einfach nur müde, so unglaublich müde.